Nachdem ich meinen wütenden Kommentar zum VDS-Lynchmob losgeworden bin, möchte ich kurz auf einigen Beobachtungen und Lehren eingehen:

Nicht alles glauben, was geschrieben steht
1.) Während die Grünen in dieser Sache massive Prügel für etwas abbekommen haben, was sie nicht getan haben, kommen Innenminister Gall und seine SPD trotz seiner völlig danebenen Position völlig ungeschoren davon. Dabei hatte Gall noch vor der Landtagswahl in Bawü genau das Gegenteil seiner gestrigen Meinung vertreten – er und ggf. seine SPD (sofern sie sich jetzt hinter ihn stellt) haben die Wählerinnen betrogen.
Damit setzt die SPD ihre verlogene Politik fort, vor der Wahl (in der Opposition) eine fortschrittliche, offene Politik zu fordern, um nach der Wahl die CDU rechts zu überholen.
Wenn sich darüber niemand mehr aufregt, dann werden sie das immer weiter so tun.
2.) Der neue, von Kretschmann verkündete, Politikstil ist bei seinem Innenminister noch nicht angekommen. Sonst hätte er sich zunächst zumindest mit seinen Kollegen abgestimmt, statt seinen „Meinungsumschwung“ per NDR Info zu verkünden. Da ist Gall viiiiel näher bei Mappus als bei Kretschmann. Die SPD sollte sich ernsthaft fragen, ob sie die Koalition mit so einem Innenminister belasten will.
3.) Gall hat seine Äußerungen nicht zufällig getätigt. Er hat natürlich gewußt, welchen Aufruhr er damit bei den Wählern der Grünen auslöst und das er seinem Koalitionspartner damit ziemlich schadet. Taktisch sehr geschickt, ein echter Machtpolitiker! Aber damit entfremdet er die Grünen weiter von der SPD – denn unter solchen dreckigen SPD-Tricks leiden die Grünen seit sie Koalitionen mit den Sozialdemokraten eingehen. Partnerschaft ist das nicht und auch nicht die Politik, die die Wählerinnen wollen.
Das ist auch der Hauptgrund, warum viele Grüne Schwarz-Grün als eine Alternative sehen: Weniger wegen der (deutlich geringeren) inhaltlichen Übereinstimmungen, sondern mehr, weil sei sich einen faireren Umgang miteinander wünschen. Mit Ole van Beust & Petra Roth erleb(t)en sie, das das möglich ist, während Althaus genau so ein Gall /Steinmeier -Machtmensch war. Das kann ich gut verstehen und würde ich auch so machen.
In Darmstadt, wo die Grünen bei der letzten Kommunalwahl stärkste Fraktion wurden, konnten sie sich aussuchen, ob sie mit SPD oder CDU eine Koalition eingehen. Trotz größerer inhaltlicher Übereinstimmungen mit der SPD haben sie sich für eine Koalition mit der CDU entschieden. Die Erniedrigungen, die sie zuvor jahrelang als kleinerer Koalitionspartner durch die SPD hinnehmen mußten, haben dort den Ausschlag gegeben.
Das sollte sich die SPD also gut überlegen, ob in einer Partnerschaft Provokationen ein gutes Mittel sind. Sie könnten die Rot-grüne / Grün-Rote Perspektive mittelfristig verbauen.
4.) Die Aufgabe der Opposition ist es, die Arbeit der Regierung zu kritisieren und dabei darf die Opposition auch schon mal Dinge kritisieren, die sie genauso gemacht hätte, wenn sie selbst an der Regierung wäre. es geht ja darum besser zu werden.
Wenn aber Politiker & Anhänger (viele, aber nicht alle) der Linken und Piraten mit den Grünen genau die Partei heftig und emotional kritisieren, die ihnen inahltlich noch am nächsten steht, dann macht sioch bei mir der Verdacht breit, das es ihnen gar nicht um Inhalte und Veränderung geht, sondern um Macht für ihre Partei. Insbesondere wenn die Kritik vom Inhaltlichen ins Polemische umschlägt.
Mir als Partei-unabhängigem geht es um Veränderung, nicht darum, welche Partei ihn durchführt. Nickeligkeiten und Profilierungssucht interessieren mich nicht und schaden der Sache. Wer von mir ernst genommen werden will, muss inhaltlich arbeiten und die Kritik angemessen verteilen. Bei VDS bedeutet das: SPD und CDU sind der Gegner, nicht die Grünen.
Achtung Grüne: Das gilt auch umgekehrt!
5.) Während einige „Qualitätsmedien“-Medien (NDR, heise.de, ..) vorschnell und unrecherchiert Falschmeldungen verbreiteten, schwieg sueddeutsche.de auch 24 h nach der ersten Meldung noch immer zum Thema. Soweit OK: Besser nix schreiben als was Falsches schreiben.
Aber: Wenn gleichzeitig brandheiße Artikel über Cameron Diaz, „Schluss machen per SMS“ & „Ballack vs. Löw“auf der Startseite auftauchen, weiss ich, dass dieses „Qualitätsmedium“ ein Prioritätenproblem hat.
Das JournalistInnen lieber um die heißen Körper von Ballack & Diaz herumschwänzeln als um Kretschmann & Gall kann ich noch verstehen. Aber wenn die Verleger es nicht schaffen, ihre Leute auf wichtige Themen anzusetzen, dann sollen sie bitte nicht ernsthafte Medien bei der Veröffentlichung von Informationen via Apps behindern.
Jetzt weiterlesen zum gleichen Thema: Hängt sie höher!
„Wenn aber Politiker & Anhänger (viele, aber nicht alle) der Linken und Piraten mit den Grünen genau die Partei heftig und emotional kritisieren, die ihnen inhaltlich noch am nächsten steht, dann macht sich bei mir der Verdacht breit, das es ihnen gar nicht um Inhalte und Veränderung geht, sondern um Macht für ihre Partei.“
Nein, das ist nicht der Grund, zumindest wenn ich die Grünen kritisiere. (Ich stehe aber auch nicht unbedingt auf rituelle Beschimpfungen.) Dass die Grünen (neben der FDP) in dem Thema uns (in meinem Fall: Piraten) von den regierungsfähigen Parteien noch am nächsten stehen, ist klar. Genau deswegen wendet man sich auch an sie, und erinnert sie an ihre Wahlversprechen. CDU/SPD würde das ja sowieso am Arsch vorbeigehen.
Was ich den Grünen vorwerfe, geht aber über den speziellen Einzelfall weit hinaus, nämlich, dass sie generell immer den letzten reaktionären Deppen des Koalitionspartners zum Innenminister mit wählen. Ob nun Hamburg, Baden-Württemberg oder sonstwo, es ist überall dasselbe. Offiziell vertreten die Grünen in der Netzpolitik fortschrittliche Positionen und bezeichnen sich selber als Bürgerrechtspartei, aber noch nie haben sie sich in irgendeiner Koalition darum bemüht, den Posten zu besetzen, mit dem man auf diesem Gebiet am meisten bewirken könnte, nämlich den des Innenministers.
Das ist auch kein Zufall, sondern Strategie. Ohne Zweifel hätte ein grüner Innenminister es nicht einfach. Von den Boulevardmedien permanent als Weichei und Verbrecherfreund gebrandmarkt, von der Bürgerrechtsopposition für jeden Kompromiss mit dem Sicherheitsapparat geshitstormt, lebt es sich sicher nicht leicht, und neue Wählerschichten könnten die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei so auch nicht unbedingt gewinnen.
Deswegen fahren die Grünen bundesweit die machtpolitische Strategie der Ignoranz. Sie überlassen das Thema einfach den anderen. Im Wahlkampf schön darauf hinweisen, dass man ja im Grunde genommen genau dasselbe möchte, wie die Piraten et al., dann den Law&Order-Minister des Partners mit wählen, und wenn der mal wieder austickt, kann man da ja gar nichts für. Plausible Deniability eben.
Aber so einfach sollten die sich das nicht machen können. Der Innenminister Gall vertritt auf der IMK in erster Linie nicht seine Partei, sondern seine Regierung, der die Grünen ebenfalls angehören. Und wenn er da wirklich für die Grünen unvereinbare Positionen vertritt, sollten sie sich vielleicht mal darum bemühen, dass er seinen Sessel räumt.
Leider befürchte ich, dass „die Grünen werden der VDS niemals zustimmen“ am Ende doch wieder bedeutet „wir enthalten uns im Bundesrat, der Vermittlungsaussschuss ist sowieso CDU/SPD dominiert, und am Ende haben wir ‚Bauchschmerzen‘, tragen aber den ‚Kompromiss‘ mit“.
„…vorschnell und unrecherchiert Falschmeldungen verbreiteten…“?
Sonst geht’s noch gut, ja? Wenn der baden-württembergische SPD-Innenminister (übrigens zusammen mit seinem NRW-SPD-Kollegen von der dortigen rot-grünen Koalition) auf der Innenministerkonferenz die sechsmonatige Vorratsdatenspeicherung befürworten will, spricht er in diesem Moment für die baden-württembergische Landesregierung. Solange Kretschmann in dieser Frage keine Richtlinienkompetenz beansprucht, können die Grünen, wenn die SPD ihren Innenminister nicht zurückpfeift bzw. die SPD sich mit den Grünen auf eine andere Haltung zur Vorratsdatenspeicherung einigt, letztlich nur die Koalition platzen lassen, um Gall zurückzuhalten.
Die SPD aber ändert derzeit keineswegs ihre Haltung bzw. denkt nicht daran, Gall zurückpfeifen: Die SPD in Baden-Württemberg und Gall selbst hatten ja sogar noch nachgelegt und das Auftreten Galls verteidigt – und betont, dass es im Einklang mit dem grün-roten Koalitionsvertrag stünde.
Vielleicht sollte nicht nur der „Lynchmob“, sondern auch Direlte Aktion mal die Fakten und die Realität checken, bevor man losbrüllt.
HTH.jk
Beim letzten Punkt (Falschmeldungen) sehe ich das etwas anders, der Rest trifft es genau (und in der Tat – sage ich als baden-württembergischer Grüner – auch bidirektional).
Hallo Jürgen,
bei Heise arbeiten doch Journalisten, oder? Und Journalisten wissen, das andere Medien nicht immer alles richtig berichten, oder? Und Journalisten wissen auch, das in einer Koalition manchmal (besonders die SPD) ihren Koalitionspartner mit unabgesprochenen Vorstößen provozieren, oder? Beides ist zumindest mir als nicht-Journalist nichts neues.
Wäre es also von einem Journalisten zu viel verlangt gewesen, mal bei den Grünen anzurufen und nachzufragen, ob dieser Vorstoß denn abgestimmt ist? Bei dpa & NDR abschreiben ist kein Journalismus. Dass können Blogger auch. Eure LeserInnen wollen auch erfahren, was dahinter steckt. Es spielt schon auch eine Rolle, ob die Grünen auch die VDS wollten, oder von der SPD ausgetrickst worden sind. Soviel Intelligenz dürft ihr euren Lesern zutrauen.
Ihr habt die Möglichkeit, zu recherchieren (ihr verdient euer Geld damit). Ich nicht. Ich erwarte von euch, dass ihr verantwortlich damit umgeht.
Gruss
Benno
P.S. Natürlich polemisiere ich hier etwas. Aber ich differenziere stärker und übertreibe weniger , als es die Presse und der Mob am Dienstag getan haben.
Nachtrag: Das hier ist übrigens ein guter Artikel zum Thema: http://www.heise.de/ct/artikel/Vorratsdatenspeicherung-Foulspiel-mit-Anlauf-1265338.html